„Doing Gender“ – Warum wir nie einfach nur wir sein dürfen
- info119720
- 21. Juli
- 2 Min. Lesezeit
Ich erinnere mich an einen Moment, der mir bis heute unter die Haut geht.
Ich war neun Jahre alt, trug ein altes Superman-T-Shirt meines Bruders und spielte mit den Jungs Fußball auf dem Schulhof. Ich war laut, schnell, ehrgeizig – und verdammt stolz, als ich ein Tor schoss. Doch in dem Moment, in dem ich jubelnd die Arme in die Luft warf, hörte ich ein Mädchen aus meiner Klasse zischen: „Das ist aber nicht sehr mädchenhaft.“
Ich wusste damals nicht, dass ich in diesem Moment mitten in das Konzept des Doing Gender hineingestoßen wurde.
Was bedeutet Doing Gender?
Das Soziolog:innen Candace West und Don Zimmerman prägten 1987 diesen Begriff, der auf Deutsch so viel heißt wie: Geschlecht wird nicht einfach „gehabt“, sondern „getan“. Es ist nicht nur eine biologische Tatsache oder ein inneres Gefühl – es ist ein ständiges Tun, ein tägliches Ritual. Wir „machen“ Geschlecht durch unsere Kleidung, unsere Sprache, unser Verhalten – und durch die Art, wie andere uns lesen, bewerten, korrigieren.
Gender ist keine private Entscheidung, es ist ein gesellschaftliches Schauspiel. Und wir sind alle gezwungen, mitzuspielen.
Die unsichtbaren Drehbücher
Ein Junge, der weint, bekommt zu hören: „Sei ein Mann!“
Ein Mädchen, das Mathematik liebt und sich durchsetzt, wird gefragt: „Bist du sicher, dass du nicht lieber was mit Menschen machen willst?“
Ein nicht-binärer Mensch, der einfach nur Bahn fahren will, wird mit irritierten Blicken gescannt, weil „etwas nicht stimmt“.
In jedem dieser Momente wird nicht nur beobachtet – es wird bewertet, reguliert, korrigiert.
Doing Gender ist nicht nur das eigene Verhalten, sondern auch das ständige Reagieren auf die Erwartungen anderer.
Und was macht das mit uns?
Es macht uns müde. Es macht uns leise. Es macht uns wütend.
Es hindert uns daran, einfach zu sein.
Es zwingt kleine Mädchen, sich zwischen Fußball und Akzeptanz zu entscheiden. Es zwingt Jungen dazu, ihre Tränen zu verbergen, bis sie irgendwann gar nicht mehr wissen, wie man fühlt. Und es lässt Menschen, die sich außerhalb des binären Systems verorten, in einem ständigen Ausnahmezustand leben.
Gegen den Strom schwimmen
Doch es gibt sie – diese Momente des Widerstands.
Wenn ein Vater seinem Sohn ein Kleid näht, weil er es liebt. Wenn eine Chefin in Anzug und Glatze Konferenzen leitet und sich nicht entschuldigt. Wenn Teenager auf TikTok „Mask Off“-Challenges machen – und ihre Version von Weiblichkeit und Männlichkeit stolz zeigen.
Diese Momente sind politisch. Diese Momente sind notwendig.
Mein Wunsch
Ich wünsche mir eine Welt, in der Gender nicht mehr „getan“ werden muss. In der ein Kind nicht „männlich“ oder „weiblich“ sein muss, sondern einfach nur Kind. In der unsere Körper, Stimmen, Kleider, Gesten – nichts über unseren Wert sagen. In der wir atmen können, ohne ein Rollenbild zu erfüllen.
Denn tief in uns, jenseits von Zuschreibungen, liegt etwas sehr Kostbares: Ein Mensch. Echt. Unverstellt. Wahr.

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